Was liegt näher als für Dispute aus dem virtuellen Raum auch ein virtuelles Gericht anrufen zu können. Die chinesische Stadt Hangzhou (chinesisch 杭州) hat am 18. August 2017 den „Hangzhou Internet Court“, offiziell als „Hangzhou Railway Transport Court“ bezeichnet, eröffnet. Im ersten zu behandelnden Fall ging es um den Streit wegen einer Urheberrechtsverletzung zwischen einem Autor und einer Internetfirma. Die jeweiligen Rechtsvertreter aus Hangzhou und Peking verhandelten 20 Minuten im virtuellen Gericht, ein Verhandlungsergebnis ist nicht überliefert.
Das virtuelle Gericht hat eine eigene Verfahrensordnung, notwendig für den neuartigen Weg, den die chinesische Gerichtsbarkeit einschlägt. So erfolgen Klagserhebung, Verteidigung, Vorlage der Beweismittel, Erlag der Gerichtskosten und Urteilsverkündung online. Die mündliche Verhandlung wird mittels Videokonferenzsystem abgehalten. Noch muss sich der Beklagte in das virtuelle Verfahren einlassen (bei Ablehnung findet das Verfahren im klassischen Stil statt), auch ein eventuelles Berufungsverfahren in der nächsten Instanz (dem „Hangzhou Intermediate Court“) wird nicht virtuell durchgeführt.
Sachlich zuständig ist das virtuelle Gericht für:
- Vertragsstreitigkeiten aus online abgeschlossenen Verträgen
- Streitigkeiten aus online begangenen Urheberrechtsverletzungen
- Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Internet
- Produkthaftungsfragen für online gekaufte Waren
- Domainrechtsfragen
- Rechtsschutz gegen das internetbezogene Handeln der Verwaltung
- Andere internetbezogene zivil- und verwaltungsrechtliche Fälle, die von einem anderen Gericht zugewiesen werden.
Die Anbindung des virtuellen Gerichts an den Standort Hangzhou kommt nicht von ungefähr. Die 10 Millionen-Einwohner-Stadt ist Standort vieler Internetfirmen, darunter auch der e-Commerce Riese Alibaba. Aber nicht nur der Standort, auch dieser für viele Juristen wohl als ungewöhnlich empfundene Schritt hin zu „mehr online“ kann mit der Transformation der chinesischen Gesellschaft (mehr als 750 Mio. nutzen das Internet, davon 96% auch mobil) erklärt werden.
Der Entscheidung ein virtuelles Gericht einzurichten vorangegangen war ein Pilotprogramm des Hangzhouer Gerichts, in welchem die anhängigen Fälle in fünf Kategorien eingeteilt wurden. Dabei stellte sich heraus, dass von den 2605 anhängigen Fällen 590 einen Internetbezug aufwiesen (entsprach 22,6% aller Fälle am Gericht). In Folge wurden neue Verfahrensregeln entwickelt und auch vorab im virtuellen Raum erprobt.
Um nun einen Rechtsstreit virtuell führen zu können, muss der Rechtsuchende ein Registrierungsverfahren auf der Online-Plattform netcourt.gov.cn durchlaufen. Sobald das Gericht die Identität überprüft hat (Nachweise können hochgeladen werden), kann der Nutzer mit seinem Verfahren loslegen. Danach prüft das Gericht die Zulässigkeit der Klage und informiert den Begeklagten per SMS, der in Folge Zugang zu den eingebrachten Akten erhält. Während der mündlichen Verhandlung müssen Kläger und Beklagter auf der Prozessseite des Gerichts eingeloggt bleiben. Unbefugtes Abmelden, das nicht technisch oder internetbedingt ist, gilt als Rücktritt (auf Klägerseite) oder als Versäumnis (auf Seite des Beklagten). Nach der Anhörung transformiert das in die Plattform eingebettete Spracherkennungssystem die Aufzeichnung der Anhörung automatisch in ein elektronisches Protokoll, das den Prozessbeteiligten zur Verifizierung übermittelt wird.
Es bleibt abzuwarten, was die erste Evaluierungsphase hervorbringt. Die Idee, Gerichtsverhandlungen im virtuellen Raum abzuhalten, ist nicht ganz neu – wir erinnern uns an die Moot Courts in Second Life. Die Einrichtung eines „realen virtuellen Gerichts“ erscheint nicht zuletzt auf Grund der Distanzen, die gerade in großen Ländern wie China bislang für ein persönliches Erscheinen vor Gericht überwunden werden mussten, als Schritt in die richtige Richtung. 20 Stunden An- und Abreise für 20 Minuten Verhandlung stehen tatsächlich in keiner Relation, Videokonferenzen sind für die meisten Juristinnen und Juristen inzwischen „Daily Business“ und auch in Bezug auf die Kosteneffizienz in Zivilprozessen scheint der gewählte Weg der Weg in die Zukunft der Gerichtsbarkeit.